Filmbildung: Eine europäische Schule des Sehens
Kinder und Jugendliche bewegen sich heute in endlosen Strömen von digitalen Bilderwelten, ohne dafür ausreichendes Rüstzeug mitzubekommen, um die Bildsprachen lesen und interpretieren, bzw. sie anwenden und selbst kreativ umsetzen zu können.
„Eine europäische Schule des Sehens“ ist ein Filmbildungsprojekt der Wim Wenders Stiftung, das sich an SchülerInnen der Oberstufe richtet. Im Schuljahr 2022/2023 als Pilotprojekt an fünf Berliner Schulen und einer Schule in Düsseldorf gestartet, beinhaltet es die Sichtung und Analyse von sechs, von Regisseur Wim Wenders persönlich ausgewählten und eingeführten europäischen Filmen, sowie in begleitenden Workshops die Produktion eigener filmischer, fotografischer oder textlicher Arbeiten durch die teilnehmenden SchülerInnen.
Im Laufe eines Schuljahres werden sechs, in thematischen Doppel-Screenings zusammengefasste Filme zusammen im Kino angeschaut. Filme auf der großen Leinwand zu erleben, bedeutet, tief in andere Welten einzutauchen – eine Erfahrung, die die Wim Wenders Stiftung mit den gemeinsamen Kinobesuchen im Rahmen ihres Filmbildungsprojekts vermitteln will.
Film ist eine moderne Kunstform, die sich wie kaum eine andere den rasanten technologischen Entwicklungen ständig neu anpassen muss – und sich somit immer auf der Höhe der Zeit befindet. „Eine europäische Schule des Sehens“ soll einen Beitrag dazu leisten, der Vermittlung von Bildsprachen in einer von Bildern dominierten Welt größere Aufmerksamkeit zu schenken und zu zeigen, wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten des Films bei der Kulturvermittlung und bei der Entwicklung von sozialen Kompetenzen in einem zeitgemäßen Unterricht sind.
Filmpaare:
Thema I
Faszination Kino
…zeigt mit DIE GEBRÜDER SKLADANOWSKY von Wim Wenders und CINEMA PARADISO von Giuseppe Tornatore, wie alles anfing und die Bilder laufen lernten, bzw. welche emotionale Kraft sie entfalten können.
Thema II
Wilde Kindheit
…vermittelt mit DER WOLFSJUNGE von François Truffaut und SYSTEMSPRENGER von Nora Fingscheidt nachhaltige Eindrücke aus dem Leben von Kindern, die es zu ganz unterschiedlichen Zeiten schwer haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Thema III
Tanzleben
…zeigt mit BILLY ELLIOT von Stephen Daldry und PINA von Wim Wenders zwei Beispiele, welch besonderes Potential der Film hat, andere Kunstformen zu vermitteln.
(Schüler, 16)
(Lehrerin)
Ausschnitte aus Wim Wenders: „Eine kleine Schule des Sehens – 12 Anregungen zur Schärfung des Blicks“ von Wim Wenders
Das tätige Sehen
Das SEHEN ist nicht bloß ein passiver Vorgang, sondern eine aktive und durchaus kommunikative Angelegenheit. Indem wir sehen, treten wir in Kontakt mit der Welt um uns herum. Man könnte diesen Akt des Sehens auch „das tätige Sehen“ nennen. Und genau diese Art des Sehens macht den Beruf des Filmregisseurs oder der Filmregisseurin aus, aber auch der Photographinnen und Photographen. Wenn Ihr also Filme drehen oder photographieren wollt, müsst Ihr Euch gewahr sein, dass aus Eurem Akt des Sehens ein Akt des Zeigens wird. Der grundlegende Ansatz ist, dass andere das sehen sollen, was Ihr selbst gesehen habt. Dieses „Zeigen“ ist eine Art Spiel, und wie jedes Spiel braucht auch dieses seine Regeln.
Der liebevolle Blick
Jeder Blick drückt auch eine innere Haltung aus. Es gibt den „kritischen Blick“, den „ironischen Blick“, den „gelangweilten Blick“ und andere mehr, aber eben auch den meiner Meinung nach produktivsten, den „liebevollen Blick“. Das mag Euch erstmal romantisch oder womöglich sogar kitschig vorkommen, aber ist es keineswegs. Das ist nämlich nicht nur ein Blick, mit dem man seinen Freund oder seine Freundin anschauen kann, sondern einer, mit dem man auf die ganze Welt blicken kann. Aber als Grundbedingung oder innere Haltung hat er eine Zuneigung zu den Menschen oder Dingen, auf die er schaut. Es reicht auch nicht, wenn man „so tut, als ob“. Das kann der Zuschauer schnell durchschauen. Der liebevolle Blick nährt sich aus seiner Zuwendung zu den Menschen oder Dingen, von denen er handelt.
Schreibend sehen
Ich bin ein begeisterter Unterwegs-Schreiber. Am liebsten schreibe ich in Zügen und Flugzeugen, aber auch in Taxis, S- Bahnen und Bussen. Auch Hotelzimmer haben es mir angetan, Cafés, Parkbänke, Bibliotheken. Ich habe mich dabei daran gewöhnt, beim Schreiben „dem Denken zuzuschauen“. Wie ein Gedanke entsteht und was beim Schreiben aus ihm wird. Mein Denken kann beim Schreiben auf einem Computer viel spielerischer sein, als es das in bloßen Gedanken je könnte. Was ich mit der Hand schreibe, bleibt mir meist merkwürdig abstrakt. Als „Schriftbild“ kann ich viel mehr darin sehen. Und dann sehe ich beim Schreiben auch tatsächlich Bilder. Keine besonders konkreten, sondern vor allem „Wünsche nach Bildern“.
Verantwortungsvolles Sehen
Mit der Digitalisierung haben wir ein Instrument in die Hand bekommen, mit dem jede und jeder von uns zumindest potentiell Filme machen können. Das ist eine Riesenchance, bedeutet aber auch eine große Verantwortung für uns alle, denn wir müssen verstehen, dass wir die Welt nicht einfach so abfilmen, und Bilder nicht ohne nachzudenken einfach in den digitalen Raum stellen können. Auch die Sprache der Bilder muss erlernt werden, genauso, wie das Lesen der Buchstaben und Wörter erlernt werden will, Erst wenn wir in der Lage sind, Bilder zu dechiffrieren, ihre Wirkung zu hinterfragen und zu verstehen, was sie mit uns machen, können wir – ja, könnt Ihr – die kreativen Möglichkeiten der digitalen Welt verantwortungsvoll nutzen.
Haben Sie Fragen zu dem Projekt oder möchten sich daran beteiligen, schreiben Sie uns gerne an: kontakt@wimwendersstiftung.de
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