Für Bruno Ganz 22.3.1941 – 16.2.2019

Es gab nie einen Schauspieler wie Bruno Ganz. Keiner käme einem entfernt in den Sinn, wenn man denn nach einem Vergleich suchen wollte. Wer hätte denn sonst einen Schutzengel als auch Adolf Hitler darstellen können? Das sagt sich so leicht, meinen Sie? Versuchen Sie es sich bloß vorzustellen: den Mut, den Forschergeist, die Hingabe und Uneitelkeit, die es allein für diese beiden extremen Rollen brauchte! Ermessen Sie eine solche Offenheit für die menschliche Seele, um auf der einen Seite bedingungslose Liebesfähigkeit auszuloten und auf der anderen totalen Haß! Wenn ich mir die Gesamtheit seiner Film- und Theaterrollen anschaue, wird mir schwindelig, wenn ich mir vor Augen halte, daß Bruno Ganz sich in all diese Geister, Götter, Helden, einfachen Menschen oder Monster hineinversetzt hat, in all diese Abgründe geschaut oder sich in all diese Höhen aufgeschwungen hat, von Faust über Hamlet bis zu Prometheus oder seiner letzten Rolle, dem Todesboten in Lars van Triers Horrorfilm The House that Jack built. Bruno war an den unzugänglichsten Orten der menschlichen Seele, in der Hölle, im Himmel, und ist immer auf den Boden zurückgekehrt.

Dabei hatte dieses herzlich ernste Menschengesicht mit den klugen Augen und dem gelegentlich aufblitzenden Lächeln (nie dasselbe, mal spitzbübisch, mal wissend, mal melancholisch, mal hämisch, mal abgründig und noch viel mehr…) zwar immer die gleichen unverkennbaren rundlichen Gesichtszügen; nichtsdestotrotz sah man jeweils einen anderen darin, nie eine Wiederholung, sah immer „nur den da“, in dessen Haut er gerade steckte, einen Einmaligen, der in seinem Wesen ganz bei sich und ganz eigen war.

Fünf Jahre nach unserem Film Der Himmel über Berlin  für die nach dem Fall der Mauer notwendige „Fortsetzung“ (Berlin war einfach eine andere Stadt geworden) übernahm Bruno noch einmal die Rolle des menschgewordenen Damiel. Sein auf die Erde gefallener Engels war inzwischen Pizzabäcker mit Frau und Kind, lebte seine Sterblichkeit aus ganzem Herzen und lachte und strahlte über beide Backen. Nie habe ich vor einer Kamera ‚Lebensfreude’ derart ansteckend gesehen, wie Bruno sie In weiter Ferne, so nah! verkörperte. Wie er etwa seinen alten Freund Cassiel (Otto Sander), als dieser endlich ebenfalls den Sprung ins Leben gewagt hat, zum ersten Mal als Mensch sieht, und wie liebevoll er ihn in dieses neue Leben einführt! Keine Erfahrung, Erinnerungsfähigkeit oder noch so ferne Assoziation hätte Bruno dazu bringen können, das so zärtlich zu spielen. Das mußte er tief in sich selbst finden, oder besser: er-finden.

Was ein Schauspieler überhaupt nur sein kann, das hat uns Bruno Ganz sowohl vor Augen geführt als auch immer wieder hören lassen. Kaum einer hat so unverwechselbar gesprochen wie er, ob das nun auf deutsch, französisch, englisch oder Italienisch war, oder gar auf schwyzerdütsch. Wie eine Stimme klingt, die jedes Wort, das sie sagt, meint dabei jede verborgene Feinheit herausarbeiten kann, und die gleichzeitig von der ersten Silbe an eine andere Seele hat, von einer anderen Überzeugung, einer anderen Denkweise getragen ist, das haben wir in all seinen Filmrollen und in allen Theaterstücken gehört, auch wenn es jedes Mal das unverkennbare Instrument desselben großen Schauspielers war. Aber es schwang jeweils anders, hatte immer Farben, die man noch nicht kannte und zeugte von einer weiteren noch unbekannten Biographie.

Ich weiß nicht, ob es dieser Ausdruck passt, aber Bruno hatte eine ‚schauspielerische Intelligenz’, die seine Regisseure oder Kameramänner nur wahrnehmen und achten mußten und besser gar nicht erst versuchten, zu beeinflussen. Er war, scheint mir, in seinen Rollen autark.

Einmal, noch ganz am Anfang seiner Karriere als Filmschauspieler, stieß Bruno mit seinem Spiel auf einen, der eine ähnliche Selbständigkeit hatte und sich dabei viele Freiheiten herausnahm, Dennis Hopper. Die erste Begegnung der beiden bei den Dreharbeiten von Der amerikanische Freund war ein Fiasko. Da prallten zwei so grundsätzlich verschiedene Ansätze gegeneinander, daß es gleich am zweiten Drehtag zu einer Schlägerei zwischen den beiden kam. Auf der einen Seite der geschulte Method Actor, der mit einer gehörigen Portion amerikanischer Unverfrorenheit (‚recklessness’ wäre das richtigere englische Wort) jeden Take anders spielte, immer auf des Messers Schneide, wobei es ihm völlig egal war, ob er seinen ‚Gegenspieler’ damit provozierte. (Zugegeben, da waren auch diverse Drogen im Spiel…) Und auf der anderen Seite der akribisch vorbereitete Präzisionskünstler, der aufs Äußerste disziplinierte und sensible deutsche Theaterschauspieler, der den bizarren Sprüngen seines Gegenüber rein sprachlich nicht gewachsen war, und der dessen Verhalten unkollegial und geradezu verwerflich fand. In dieser knallharten Konfrontation zweier Welten waren Brunos urplötzliche Ohrfeige und Dennis’ blitzartig folgender Kinnhaken praktisch eine unvermeidbare Konsequenz. (Auch wenn ich das so rabiat nicht hatte kommen sehen…).

Dieses Ereignis wäre kaum mehr als eine Anekdote geblieben, wenn die beiden nach dem wilden (und durchaus blutigen) Kampf nicht zusammen verschwunden wären, nur um nach einer gemeinsam durchzechten Nacht auf der Reeperbahn am nächsten Morgen als beste Freunde wieder zu erscheinen. Und selbst das wäre nur eine amüsante Story, wenn nicht Dennis von diesem Film und dieser Erfahrung mit Bruno Ganz Zeit seines Lebens als ‚lebensrettend’ gesprochen hätte, und wenn nicht auch Bruno diese Situation in einen radikalen Lernprozeß verarbeitet hätte. Er begriff sofort: mit diesem absolut konträren Kontrastprogramm zu seiner eigenen Herangehensweise war dieser Amerikaner trotzdem unverschämt gut und brachte eine unerhörte Präsenz vor die Kamera. Die wollte auch Bruno unbedingt erkunden. Schon bald ließ er mit großer Lässigkeit Proben Proben sein, um sich dem nächsten Drehtag unvorbereitet zu stellen, während Dennis im Gegenzug die Drogen fahren ließ und abends an meine Tür klopfte, um sich auf die nächsten Szenen vorzubereiten. Aus diesem gegenseitigen Respekt und dem damit verbundenen voneinander Lernen entstand der Titel des Films, der sonst ganz anders geheißen hätte.

Bruno Ganz war ein Schauspieler und ein Mensch von großer Freiheit und Furchtlosigkeit. In jeder Rolle hat er uns an beiden teilnehmen lassen, ob als Engel oder als die Inkarnation des Bösen. Aber das zu tun, ohne seine Figuren zu ‚kommentieren’ oder auch nur im Entferntesten zu bewerten, indem er sie nur geradezu bescheiden vor uns hinstellte, um jedes Mal hinter der Rolle zurückzutreten, das war einzigartig.

Du hast ein paar von uns zu besseren Regisseuren gemacht, Bruno, aber uns alle zu besseren Zuschauern, Träumern und Mitmenschen.

 

Zuerst in leicht gekürzter Fassung erschienen in DIE ZEIT: ZEIT ONLINE, 21. Februar 2019

Photo: DER HIMMEL ÜBER BERLIN, 1987 (c) Wim Wenders Stiftung